„Entspann dich mal“ hilft nicht, wenn dein Nervensystem nicht dabei ist

Du bist gestresst, aufgewühlt, überfordert und jemand sagt zu dir „Entspann dich mal!“

Aha, ja danke. Wäre es so einfach, wäre ich entspannt. Anstatt also Entspannung zu erfahren, entsteht ein inneres „GRRRR“ und dein Körper spannt sich noch mehr an. Anstatt aus der Situation herauszukommen, wirst du noch weiter hineingedrückt.

 
Bild mit Frau und Tee am See. Entspann dich mal
 

Inhalt:

1. Was dein Nervensystem mit Entspannung zu tun hat
2. Anzeichen, dass dein Nervensystem überfordert ist
3. Es liegt nicht an mangelnder „Willenskraft“
4. Wie Entspannung funktioniert, wenn du nicht entspannen kannst
Praktische Tipps, die mir helfen, mein Nervensystem sanft und alltagstauglich zu beruhigen
Fazit: Entspannung beginnt tiefer als du denkst

 

Dein Körper ist angespannt, dein Brustbereich wird enger und das Letzte, was du brauchst, ist jemand, der dir helfen will, ohne zu verstehen, dass das keine Einstellungssache ist.

Dein Körper ist im „Fight-or-Flight“-Modus. Dein Nervensystem hat das Sagen und nicht deine Einstellung. Wir können unser Nervensystem regulieren lernen, aber das braucht Zeit und auch in den Situationen, die uns stressen.

Als Aspergerger-Autistin fühle ich das besonders, wenn mich Situationen überfordern, die für neurotypische Menschen so normal (und teilweise sogar entspannend) sind, dass sie nicht einmal auf die Idee kommen, dass mein Körper einfach in den Überlebensmodus springt.

Und anstatt, dass mich Menschen dann einfach mal in Frieden lassen und mir Zeit geben, mein Nervensystem zu regulieren oder mir Raum für meinen eigenen Ausweg geben, kommen Ratschläge („Ratschläge sind auch Schläge“ ;-)), die genau das Gegenteil bewirken.

Dieser Artikel ist für dich, wenn du es kennst, dass dir Menschen gut gemeinte Dinge sagen, wie

  • Entspann dich mal

  • Beruhig dich

  • Das ist doch nicht schlimm. Stell dich nicht so an.

  • Du reagierst übertrieben

  • Reiß dich mal zusammen

  • etc.

Und dir fällt es noch schwerer, wieder zu dir zu finden. Du gibst dir selbst die Schuld dafür, fühlst dich noch schlechter, bist frustriert und die besten Entspannungstipps und -übungen bringen dir gar nichts.

1. Was dein Nervensystem mit Entspannung zu tun hat

Dein Nervensystem ist wie ein hochkomplexer Dirigent, der steuert, ob du dich sicher, bedroht oder entspannt fühlst. Die meisten Menschen denken, Stress wäre eine mentale Einstellung und auch, wenn das eine Rolle dabei spielt, ist es am Ende dein Nervensystem, welches automatisch reagiert.

  • Deine Muskeln spannen sich an

  • Deine Atmung wird flacher

  • Die Herzfrequenz beschleunigt sich

  • Das Verdauungssystem fährt herunter

  • Du bist gestresst und nervös

Dabei spielt es keine Rolle, ob ein Säbelzahntiger vor dir steht, du eine E-Mail vom Chef bekommst oder eine lange To-Do-Liste vor dir liegen hast.

Unser Nervensystem steuert die Reaktionen unseres Körpers auf Stress und sorgt dafür, dass wir uns nach Belastungen wieder erholen können. Der sogenannte Parasympathikus aktiviert dabei Prozesse wie die Verlangsamung des Herzschlags, die Förderung der Verdauung und die Entspannung der Muskulatur.

Wenn wir also gezielt entspannen, etwa durch tiefes Atmen, Meditation oder sanfte Bewegung, unterstützen wir den Parasympathikus und helfen unserem Körper, Stress abzubauen. So sorgt ein ausgeglichenes Nervensystem nicht nur für körperliches Wohlbefinden, sondern auch für innere Ruhe und emotionale Stabilität.

Aber: Dein Nervensystem reagiert erst wirklich darauf und du entspannst auch erst, wenn sich dein Körper sicher genug fühlt, um diese Entspannung auch tatsächlich anzunehmen.

Du kannst in gewissen Situationen vielleicht vorgeben, entspannt zu sein. Doch verkörperst du das wirklich oder versuchst du nur, dein Äußeres zu wahren, bis es hinterher noch stärker aus dir herausbricht?

Ich tendiere zu Letzterem und das ist alles andere als gut für die eigene Balance.

 

Wenn dein Nervensystem auf „Gefahr“ eingestellt ist, sind Körper und Psyche in Alarmbereitschaft. Dein Körper entscheidet dann, dass Entspannung gerade lebensgefährlich wäre, selbst wenn dein Verstand weiß: „Es ist nur eine E-Mail. Hier ist alles okay.“

Das bedeutet: Entspannung funktioniert nur, wenn dein Nervensystem registriert: „Ich bin sicher.“

 

2. Anzeichen, dass dein Nervensystem überfordert ist

Manchmal merken wir gar nicht, wie sehr unser System unter Strom steht. Wir sind es so gewohnt, eine gewisse Anspannung zu haben, dass wir gar nicht mehr wissen, was wirklich Entspannung ist. Achtsamkeit gegenüber dem eigenen Körper und Bewusstsein sind wichtig, um wahrzunehmen und dir Ruhephasen zu erlauben.

Es gibt ein paar typische Zeichen, dass dein Nervensystem im Alarmzustand ist:

  • Du kannst nicht abschalten, selbst wenn du Zeit hast.

  • Du schläfst schlecht oder hast Albträume.

  • Dein Körper fühlt sich ständig angespannt oder nervös an.

  • Du reagierst schnell gereizt oder überfordert auf kleine Auslöser.

  • Tiefe Erschöpfung wechselt sich mit Rastlosigkeit ab.

  • Entspannung ist anstrengend und fühlt sich an wie Arbeit.

Erkennst du dich in einem dieser Punkte wieder?

In diesem Zustand ist dein Körper nicht auf Entspannung ausgerichtet, sondern darauf, dich zu schützen.

3. Es liegt nicht an mangelnder „Willenskraft“

Wenn du diese Erfahrungen und Anzeichen kannst, dann ist dein Nervensystem in Alarmbereitschaft und es hat nichts mit deinem Willen zu tun. Es gibt Menschen, die

  • nehmen über ihre Sinne mehr und intensiver wahr.

  • sind feinfühliger und sensibler

  • nehmen viel mehr in sich auf als andere

Für diese Menschen, zu denen ich selbst gehöre, ist unsere Welt nicht ausgerichtet. Und auch, wenn jeder Mensch gestresst und überfordert sein kann, geschieht es bei einigen früher, stärker oder intensiver.

Das liegt alles nicht daran, dass du

  • schwach

  • zu empfindlich oder

  • dramatisch

    bist.

Es liegt daran, dass du noch keinen Weg gefunden hast, mit deinem Körper und Nervensystem zu arbeiten, um dort hinauszufinden und Entspannung zuzulassen.

Wenn du in eine entspannte Balance kommen möchtest, dann musst du mit deinem Nervensystem kommunizieren und lernen es zu regulieren.

 

4. Wie Entspannung funktioniert, wenn du nicht entspannen kannst

Entspannung ist ein Zustand und folgt keinen Befehlen. Der Zustand von Entspannung entsteht, wenn dein autonomes Nervensystem (insbesondere der Vagusnerv) in den "rest and digest"-Modus schalten kann.

Das geschieht, wenn du dich sicher fühlst.

Danach folgt der Rest. Hilf deinem Nervensystem also dabei, dass es sich sicher fühlt.

Folge dabei den kleinen Momenten im Alltag, in denen du spürst, dass jetzt gerade einmal alles in Ordnung ist. Wenn du langsamer und tiefer atmest, weil du dich in diesem Moment nicht mehr anstrengen musst. Wenn du alleine bist oder in einem sozialen Umfeld, wo du dich sicher, geborgen und wohlfühlst.

 

Denk daran: Du (oder jemand anderes) kannst dein Nervensystem nicht "überreden". Dein Nervensystem entspannt, wenn du im Hier und Jetzt zur Ruhe kommst und es spürt: Ich bin in Sicherheit. Ich darf loslassen.

 

Praktische Tipps, die mir helfen, mein Nervensystem sanft und alltagstauglich zu beruhigen

Hier ein paar einfache, aber wie ich finde sehr wirkungsvolle Methoden, um dem Nervensystem echte Entspannung zu ermöglichen. Wichtig ist, dass du immer wieder etwas in deinen Alltag einbaust. Nicht nur einmalig, aber auch nicht alles gleichzeitig. Du brauchst keine umfassenden Routinen oder etwas, was nur für mehr Stress sorgt.

Dein Nervensystem braucht einfach nur beständige Signale der Sicherheit:

Bewusst atmen

Deinen Atem hast du immer bei dir. Du kannst ihn bewusst (und heimlich) nutzen, um deinem Körper Entspannung und Sicherheit zu signalisieren. Nimm bewusst tiefe und langsame Atemzüge. Atme länger aus als ein.

Körper spüren und sanft bewegen

Sanfte Bewegungen oder leichtes Klopfen auf den Körper helfen, wieder bei dir anzukommen.

Für sanftes Klopfen kann ich EFT-Tapping empfehlen. Das ist mein absolutes Lieblingstool, um mit mein Nervensystem zu regulieren. Das hat schon Wunder bewirkt, ist unkompliziert und kann dich in nur wenigen Minuten auch wieder in deine Mitte bringen.

Intensives Training kann dein Nervensystem zusätzlich stressen und zu viel sein, aber sanfte, bewusste Bewegungen helfen dir. Zum Beispiel

  • Schaukeln / Wippen von einer Seite zur anderen
    (Autist*innen machen das häufig, um sich selbst zu beruhigen. Es wirkt und dafür muss niemand Autist*in sein)

  • Handgelenke ausschütteln

  • langsam gehen, barfuß über die Erde laufen (du spürst es mehr und es erdet)

  • Dehnung oder sanftes Yoga

  • Intuitiv bewegen

Achtsame Mini-Momente der Sicherheit schaffen

Was gibt dir Sicherheit? Wann kannst du gut loslassen und fühlst dich wenigstens für einen Moment sicher, gut und wohl?

Zum Beispiel: Kuschle mit deinem Haustier, halte eine warme Tasse Tee bewusst in den Händen und genieße sie. Wende dein Gesicht der Sonne zu, schließe die Augen und fühle die Wärme. Umarme deinen Lieblingsmenschen oder einen Baum.

Was sind deine Mini-Momente?

Singen, Summen, Brummen

Töne erzeugen Vibrationen und können die deinen Vagusnerv aktivieren.

Es fühlt sich für mich an wie Schwingungen, die die durch meinen Körper wandern und mein System streicheln, beruhigen, besänftigen. Sanft, aber kraftvoll.

Augen entspannen

Weiches, offenes Sehen (statt starrem Fokus) beruhigt dein Nervensystem direkt. Vielleicht kannst du in die Weite der Natur sehen? Über ein Feld, in den Wald hinein, über eine Blumenwiese.

Selbstgespräche

Sage dir selbst sanft, aber selbstsicher und kraftvoll, dass du sicher bist. Laut oder in deinem Kopf. Du kannst es auch aufschreiben. „Hier und jetzt bin ich sicher. Ich kann langsamer werden, langsamer atmen, langsamer bewegen. Ich bin sicher.“

Es gibt noch viele andere Möglichkeiten, wie

  • beruhigende Musik hören

  • Gewichtsdecke nutzen

  • warmes Wasser über die Hände laufen lassen bzw. alles, was deinen Körper und Geist hilft, dich im Moment zu verankern

Fazit: Entspannung beginnt tiefer als du denkst

„Entspann dich mal!“ Dieser Satz ist gut gemeint, trifft aber nicht einmal ansatzweise den Kern der Sache. Dein Körper braucht nämlich keinen Befehl oder Ratschlag. Dein Körper braucht echte Sicherheit, bevor dein Nervensystem Entspannung annehmen und zulassen kann.

Du bist nicht zu sensibel und musst dich auch nicht einfach nur mehr anstrengen. Lerne auf dein Nervensystem zu hören und mit ihm zu arbeiten. Gib deinem Nervensystem und deinem Körper, was sie brauchen. Dann wird Entspannung mit der Zeit etwas Natürliches und du kannst immer leichter wieder zurück in deine entspannte, innere Balance finden.

Doch dafür musst du anfangen, deinem Nervensystem Sicherheit geben.

Also: Was könntest du heute tun, um deinem Nervensystem eine kleine Pause und Momente der Sicherheit zu schenken?

Vielleicht fängst du mit einem tiefen, bewussten Atemzug an.

Genau hier und jetzt.

Alles Liebe
Andrea

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